Vom Winde verweht …

Chile und Argentinien teilen sich eine der längsten Grenzen der Welt. Über den Verlauf von etwa 6700 km musste man sich einig werden - viele Möglichkeiten für Differenzen und kriegerische Auseinandersetzung. Und dann war da auch noch der Falklandkrieg. Die relativ junge Geschichte wirft noch immer einen Schatten auf das aktuelle Verhältnis der Nachbarstaaten. So sind in beiden Ländern Kriegsdenkmäler präsent und einige Grenzgebiete sind nach wie vor vermint. Man trifft auf Einheimische, die noch nie einen Fuß in das Nachbarland gesetzt haben - und das aus ideologischen Vorbehalten auch nie tun würden. Andererseits gibt es viele, die diese Differenzen nicht nur politisch beiseite gelegt haben, sondern auch in den Köpfen als historisch abgelegt. Außerdem bedingt die Geographie in Kombination mit dem Verlauf der Grenze, dass eine Reise im Süden der beiden Länder ohne den Wechsel von einem Staat in den anderen kaum möglich ist. Und so schlossen auch wir uns dem allgemeinen Länderhopping an. Wir wechselten vom argentinischen Teil Feuerlands in den chilenischen, um dort die Fähre zwischen Porvenir und Punta Arenas zu nehmen und am chilenischen Festland zu landen. Von dort wollten wir nach der Besichtigung des berühmten Nationalparks Torre del Paine zurück nach Argentinien fahren, um nach einer Erkundung der argentinischen Gletscher erneut die Grenze zu überqueren und in Chile die Carretera Austral zu bereisen. Doch bevor wir uns den Schönheiten der Natur widmeten, legten wir einen mehrtägigen Stopp in Punta Arenas ein, um die ehemalige Metropole der Schafzüchter-Dynastien zu erkunden. Die Stadt am südlichen Ende des südamerikanischen Festlands überrascht die Besucher einerseits aufgrund der unerwarteten Größe und anderseits dank des angenehmen Auftritts. Sie ist ruhig, sauber und vermittelt im Zentrum den Charme eines kleinformatigen Paris der Belle Époque. Wir quartierten uns im überaus empfehlenswerten Hostal Indepedencia ein - vielen Dank Eduardo für die heimelige Atmosphäre, das gute Frühstück, die vielen netten Gespräche und hilfreichen Tipps - und erkundeten die Stadt sowie die Geschichte der Schafzucht. Im sehenswerten Museum Centro Cultural Braun-Menendez bekamen wir einen Eindruck vom Lebensstil der Schafbarone und ihrer Angestellten sowie den Strategien, um ihre gesellschaftlichen Status zu erhalten. Sie standen in Sachen Heiratspolitik in nichts der europäischen Aristokratie nach. Am Friedhof Cementerio Sara Braun besichtigten wir eindrucksvolle Grabstätten, die vom Reichtum der Zeit zeugten, sowie im Museum del Recuerdo interessante Gerätschaften aus der Zeit der Pioniere.

Auf der Weiterfahrt stand dann wieder statt Kulturprogramm die Auseinandersetzung mit Naturgewalten, im speziellen dem Wind, auf dem Programm. Bereits in den letzten Tagen auf Feuerland hatten wir eine für uns neue Dimension von Wind kennengelernt. Auf dem Weg von Punta Arenas nach Puerto Natales zeigte der Wind dann, dass er es am Festland genau so gut kann. Man weiß nicht, was starker Wind ist, bevor man nicht durch Patagonien geradelt ist und:

Eine Radreise durch Patagonien will etwas vorbereitet sein. Einfach ins Grüne fahren, scheitert nicht nur daran, dass die Landschaft eher grau-bräunlich ist, sondern vor allem an den großen Distanzen und der damit einhergehenden schwierigen Wasserversorgung. So sind es von Punta Arenas bis zum nächstgelegenen Mini-Ort Tehuelche 100 km. Dazwischen gibt es eine Tankstelle - wenn sie nicht gerade wegen Umbau geschlossen ist. Dann gibt es dazwischen nichts außer ein paar Flamingos an einem sumpfigen See. Auf den rund 150 weiteren Kilometern nach Puerto Natales gibt es eine Polizeistation, ein Ausflugsrestaurant und ein Luxushotel. Eine sehr praktische, chilenische Erfindung sind die Busstationen und -häuschen, die sich an den Stichstraßeneinmündungen befinden. Diese führen zu oft viele Kilometer entfernt liegenden Farmen (Rekord über 300 Kilometer). Dabei handelt es sich um kleine Häuschen, in denen man windgeschützt Pause machen kann. Manchmal, wie in Tehuelche, sind sie sogar so groß, dass vier Radfahrer gemütlich mit ihren Habseligkeiten übernachten können. Gibt es kein Bushäuschen, dann muss eben der klapprige Holzschuppen der Polizeistation als Zeltplatz herhalten.

Puerto Natales ist als Ausgangspunkt zum Nationalpark Torres del Paine dann wieder ein richtiger Ort mit allen Arten von Unterkünften und Versorgung. Auch wir bereiteten uns dort auf unsere mehrtägige Rundwanderung vor. In Punta Arenas hatte uns ein slowenischer Hostel-Mitbewohner erklärt, wie man mit circa zwei Wochen Vorlauf eventuell doch die notwendigen Reservierungen für die Campingplätze bekommen könnte, um die Rundwanderung machen zu können. Tatsächlich hatten wir das notwendige Quäntchen Glück und fanden rund um die Weihnachtsfeiertage Reservierungen. Somit brachen wir am 19. Dezember auf, um Weihnachten einmal ganz anders zu verbringen – ohne viel Konsum, Weihnachtsmusik und Christbaumglitzern, dafür mit viel Natur und Stille. Der Weg in den Nationalpark musste über Stock und Stein erradelt werden. Die ersten 30 Kilometer waren bereits betoniert, doch ein Stück vor der Höhle des Mildon (Zeitgenosse der Dinosaurier) begann ein langer Baustellenabschnitt. Die Straße wurde gerade ausgebaut, zum Teil betoniert, zum Teil asphaltiert. Noch ist der Belag auf vielen Abschnitten holprig und rau. Dazu kamen etliche knackige Anstiege. Wir merkten zusätzlich zu unseren bereits schon gut gepackten Taschen das Gewicht von zehn Tagesrationen für zwei Personen und einer Flasche Weihnachtswein. Eine so langfristige Essensplanung für unterwegs war für uns eine neue Erfahrung. Die Warnung vor exorbitanten Preisen im Torres del Paine Park von anderen Reisenden hatte uns motiviert, alles notwendige aus Puerto Natales mitzunehmen. Auf der Anreise rächte sich jetzt unsere Sparsamkeit. Motivierend war das Verhalten der Autofahrer. Als wir in einem Baustellenbereich den Gegenverkehr aufhielten, weil wir nur langsam die Steigung hochkriechen konnten, wurde wir am Ende nicht mit ungeduldigem Hupen oder frustrierten Blicken in Empfang genommen, sondern mit aufmunternden Rufen, Thumbs-Up und blitzenden Handykameras. Noch mehr freuten wir uns, als wir am nächsten Tag bereits durch den Nationalpark zum Ausgangspunkt des Rundwanderwegs (Central) radelten und uns auf einer geschotterten, steilen Steigung abmühten, als ein Auto anhielt, der französischen Fahrer ausstieg und uns half, Düsi die Steigung hochzuschieben. Er transportierte dann auch unsere schwere gelbe Packtasche Dicke Berta zum nächsten Café. Von dort nahmen sie Busschaffeure mit, sodass wir um einige Kilos leichter nach Central radelten. Dort stellten wir fest, dass wir schneller gewesen waren als die Dicke Berta. Besorgt erkundigten wir uns im Welcome-Center, doch keine gelbe Packtasche war gesichtet worden. Erst die Parkrangerin konnte uns weiterhelfen. Sie wusste aufgrund der Wagenbeschreibung, zu welcher Touristenunterkunft das Fahrzeug gehörte und konnte so mit dem Fahrer über Funk Kontakt aufnehmen. Nachdem er seine Passagiere gut abgeliefert hatte, brachte er uns die gesuchte Fracht. Mittlerweile war es spät geworden. In Windeseile mussten wir umpacken, damit die Dicke Berta sich von einer Packtasche in einen Wanderrucksack verwandelte. Düsi und die restlichen Packtaschen wurden im Lager des Welcome-Centers gegen ordentliche Nächtigungsgebühr verstaut. Dann schulterte Matthias eine 33 Kilogramm schwere Dicke Berta, Nina eine mittels Rucksackadapter umgewandelte mittelgroße Packtasche. Um acht Uhr abends machten wir uns so auf den Weg zu unserem ersten Campingplatz. Die Freigabe zum Nachtwandern hatten wir uns noch von der Rangerin geholt. Sie warnte uns, dass wir ein paar Mal durch Bäche waten werden müssten, aber gehen könnten wir. Schon bald stellten wir fest, dass man zum Wandern andere Muskeln als zum Radfahren benötigt. Unter den ungewohnten Rucksäcken schnaufend, stapften wir langsamer dahin als gedacht. Gegen elf Uhr wurde es finster, wir packten unsere Stirnlampen aus. Wir hatten den Auf- und Abstieg über einen Kamm gemeistert und hatten nur mehr flaches Gelände vor uns. Doch die Nachtwanderung hatte noch einige Tücken parat. So war die Querung zweier Bäche von 3 bis 5 Meter Breite in der Nacht schwierig. Matthias entschied sich für nasse Schuhe, Katharina für das Barfußwaten. Danach mussten wir auf der anderen Seite die Fortsetzung ausmachen, um einen sinnvollen Weg einzuschlagen. Einmal waren wir dabei in sumpfiges Gebiet gelangt und mussten uns umorientieren. Auf einer matschigen Stelle saß eine Maus und sah uns neugierig an. Wir wären dort wohl versunken. Wir folgten gut reflektierenden Schildern und kamen zu guter Letzt um ein Uhr nachts am Campingplatz an. Es war niemand mehr auf, sodass wir uns einfach einen Platz für unser Zelt suchten. Der Platz war schon im Vorhinein bei der Reservierung bezahlt worden. Nach dem langen, anstrengenden Tag kochten wir uns noch Abendessen, um wenigsten nicht ausgehungert schlafen zu gehen. In den folgenden sechs Tagen erwanderten wir uns das “O” des Torres del Paine. Hierbei erlebten wir zwei Seiten. Die ersten drei Tage auf der Hinterseite, wo nur jene von Parkrangern durchgelassen werden, die Reservierungen vor und hinter dem Pass John Gardener vorweisen können, und die zweiten drei Tage auf der Vorderseite, wo viele das so genannte “W” gehen. Die Vorderseite empfanden wir als überlaufen, obwohl das Valle Britanico trotzdem sehr schön war. Die Hinterseite war hingegen ruhig und entsprach mehr unseren Wandererfahrungen. Die zwei Wandergruppen sowie paar Einzelgänger, die gleichzeitig mit uns unterwegs waren, kannten wir bald. Als die zwei verrückten Radfahrer mit dem dicken gelben Rucksack wurden wir jeden Abend herzlich in Empfang genommen. Die Wandergruppenführer versorgten uns mit Informationen, Pisco (chilenisch-peruanischer Schnaps) und Trinksalzen. Außerdem verpflasterten sie Ninas Zehen, die in den Wandersandalen nicht ganz den Strapazen einer mehrtägigen Wanderung mit vielen Bachdurchquerungen standhielten. Je weiter weg wir vom Trubel kamen, desto netter waren die Leute und desto günstiger die Preise, obwohl zu den abgelegenen Campingplätzen alles per pedes oder hoch zu Ross transportiert werden muss. Weihnachten feierten wir dieses Mal dann ganz speziell: mit der Passüberschreitung. In der Nacht hatte es bis knapp oberhalb unseres Campingplatzes geschneit, sodass wir am nächsten Morgen fleckchenweise Neuschnee hatten und kurzfristig schneite es sogar – Weinachten mit Schnee im Sommer. Bei der Überquerung der Moräne und des Passes hatten wir dann Wetterglück: Es war relativ windstill und strahlend sonnig. Nachdem wir zwei Tage zuvor am Paso del Viento (Pass des Windes) bereits umgeblasen worden waren und einer Wasser-Windhose dabei zuschauen konnten, wie sie vom See den Hang bis zu uns hochgetrieben worden war, wussten wir das sehr zu schätzen. Der Blick vom Pass John Gardener auf das enorme Gletscherfeld des Grey-Gletschers ist unglaublich, der darauffolgende Abstieg steil, mit atemberaubenden Blicken auf das Gletscherfeld. In engen Kurven und steilen Rutschpassagen näherten wir uns immer mehr der Eiszunge. Anschließend ging es über drei Hängebrücken Richtung Gletschersee. Nach über zwölf Stunden Wandern kamen wir müde, aber glücklich in der Unterkunft Grey an, wo wir uns zur Feier des Tages ein Bett gönnten. Der erwartete 8-Bett-Schlafsaal entpuppte sich als 4-Bettzimmer. Dieses teilten wir uns mit einem lieben Pärchen aus Stuttgart. Sie verwöhnten uns mit Weihnachtskeksen und neuen Pflastern. Vielen Dank! Zwei Tage später trat uns dann ein anderes Pärchen die Reservierung für den Gratis-Campingplatz Italiano ab. Beim Wandern trafen wir außerdem alte Bekannte wieder: Camila aus Brasilien, Vicente aus Spanien und Frank aus Deutschland - alles Radfahrer, die wir schon in Feuerland getroffen hatten. Im Welcome-Center wurde Matthias dann bei der Düsi-Abholung freudig von einer der Damen mit einem kalten Bier begrüßt. Sie war eine unseren Mitwanderinnen über den Pass gewesen. Der Abschied vom schönen Torres del Paine-Nationalpark fiel uns bei so vielen netten Begegnungen nicht leicht, auch wenn die Preise in Central uns dazu trieben, keine zusätzliche Nacht mehr anzuhängen. Das letzte Stück Chile führte uns dann überraschenderweise auf Asphalt nach Cerro Castillo. Das ersehnte Essengehen fiel dort leider aus, da die zwei Restaurants des Ortes geschlossen hatten. Dafür campten wir hinter einem der beiden ungestört. Wir waren windgeschützt und hatten sogar automatisches Licht. Am nächsten Morgen begrüßten uns die Besitzer freundlich und zeigten uns, wo wir unseren Müll entsorgen konnten, bevor wir über die Grenze nach Argentinien radelten.

BlogBlog NextVorwärts FrageFragen und Kommentare VorherigerZurück