Ge’ma Gletscha schau’n
Argentinien ziert sich dieses Mal etwas … eine Stunde mussten wir in dem kleinen Häuschen der Grenzkontrolle anstehen, bevor wir den Stempel im Pass hatten. Dafür lernten wir danach ein für uns bis dorthin unbekanntes Phänomen kennen: Rückenwind. Über einen großen Teil der Strecke des Tages wurden wir geschoben - ja richtig getrieben. Trotz der späten Abfahrt und 60 km Schotterstraße zeigte der Tacho bei Einbruch der Dunkelheit fast 120 km. Um den vorteilhaften Wind möglichst lange auszunutzen, fuhren wir daher bis es fast stockdunkel war und campierten kurzer Hand am Straßenrand.
In den nächsten zwei Tagen auf dem Weg nach El Calafate kämpfte Matthias mit Verkühlung und Fieber. Die Anstrengungen der Wandertage holten ihn ein. Gott sei Dank, fanden wir einen warmen und windgeschützten Schlafplatz in der Estancia Rio Bote und schafften es dennoch wie geplant am 31. Dezember in El Calafate einzutreffen. Das lang ersehnte, schöne Silvesteressen musste jedoch ausfallen, da ohne Reservierung kein Platz in den Restaurants zu bekommen war. Wir ergatterten stattdessen guten argentinischen Wein, überteuerte Empanadas (Teigtaschen) und das letzte, sehr leckere Take-Away-Sushi. So ausgestattet feierten wir gemütlich und entspannt Silvester in unserem Zelt.
Die nächsten Tage waren geprägt von Krankheit und “Gletscha schau’n”. Auf Grippeanflüge zuerst bei Matthias und dann bei Katharina folgte eine Magenverstimmung bei Matthias, sodass wir länger als ursprünglich geplant in El Calafate blieben. Dadurch kamen wir in den zweifelhaften Genuss miterleben zu können, wie auch am südlichsten Ende Südamerikas der Klimawandel spürbar ist. Schneeregen Anfang Januar - also im Sommer - ist selbst für diese kühle Gegend ungewöhnlich. Es wechselten sich Schlafsack-Rasttage mit spektakulären Naturerlebnissen ab. Aufgrund von hohen Buspreisen trampten wir zum Gletscher Perito Moreno. Das regnerische, kalte Wetter reduzierte etwas unsere Aufenthaltsdauer, jedoch nicht unsere Begeisterung für den Gletscher. Bis zu 70 m ragt er aus dem Wasser und bis zu 150 m unter die Wasseroberfläche. In regelmäßigen Abständen brechen mit einem lauten Knall Eisstücke ab und stürzen in den See. Der Gletscher leuchtet in den unterschiedlichsten Blautönen abhängig vom Lichteinfall. Begeistert von den Eindrücken fuhren wir am nächsten Tag mit einem Schiff zu den drei Gletschern Perito Moreno, Spegazzini und Upsala. Dafür standen wir frühmorgens auf, um anschließend länger als angekündigt auf den Shuttelbus zu warten. Katharina machte sich schon Sorgen, dass wir vergessen worden waren, als der Abholservice doch noch erschien. Wir verbrachten einen tollen Tag auf dem Schiff mit netter Tischgesellschaft aus Deutschland und Buenos Aires. Zu Mittag wurden wir mit einem guten Lammburger gestärkt. Jederzeit konnten wir an Deck gehen und die Gletscher und vorbeischwimmenden Eisberge aus nächster Nähe betrachten. Am späten Vormittag unternahm das ganze Schiff einen Spaziergang, um sich mit der Geschichte des Nationalparks und der Besiedlung der Gegend auseinander zu setzen. Am Nachmittag gab es Gletschereis zum Berühren und Trinken. Den herrlichen Ausflug ließen wir bei einem All-You-Can-Eat-Grillen ausklingen. Diese auf Spanisch als Parrillada Libre (Freier Grill) bezeichneten Lokale müssen wohl in Argentinien erfunden worden sein. Neben Vorspeisen, Nachspeisen und Salat kann man vor allem so viel gegrilltes Fleisch essen, wie man möchte. Hierbei gibt es verschiedene Fleisch- und Wurstsorten zur Auswahl. Manchmal kann man auch Kuriositäten wie gegrillten Darm probieren. Parrillada Libre ist also nicht wirklich für Vegetarier geeignet, aber wir kamen so doch noch zu unserem lang ersehnten guten Essengehen. Neben Restaurants und Gletschern besuchten wir in El Calafate das interessante Gletschermuseum und den Vogelbeobachtungspark, indem wir neben vielen Vögeln, Enten und Schwänen auch zwei jungen Füchsen beim Spielen zu sehen konnten.
Bei unserem nächsten Stopp in El Chaltén stand erneut “Gletscha schau’n” auf dem Programm - dieses Mal jedoch zu Fuß. Vom Ort aus kann man Wanderungen zu den Gletscherseen Laguna Torre y Laguna de los Tres und den dahinter liegenden Gletschern machen. El Chalten hat in den letzten Jahren einen noch stärkeren Boom als El Calafate erlebt. Vor ein paar Jahren waren die 90 km Erschließungsstraße asphaltiert worden und seitdem ist es zum Wander- und Klettermekka geworden. Der Ort ist um ein Vielfaches angewachsen, wobei die neuen Gebäude (fast) ausschließlich dem Tourismus dienen. Trotzdem ist es in der Hochsaison kaum möglich, eines der überteuerten Zimmer ohne Reservierung zu bekommen. An mehreren Stellen im Ort sind weitere Hotels und Pensionen am Entstehen. Entsprechend groß ist auch der Andrang auf den Campingplätzen und Hauptwanderwegen, die in einem besseren Zustand sind als jene im Nationalpark Torres del Paine, obwohl man hier keine Eintrittsgebühren verlangt. Instand gehalten werden sie mit Hilfe von Freiwilligen. Die österreichische Kapelle mit den Gedenktafeln an verunglückte Wanderer und abgestürzte Kletterer sowie alte Fotos und Artikeln zur Erstbesteigungen der umliegenden Gipfeln an den Wänden von Restaurants erinnern noch an die Zeit, als der Ort nur von eingefleischten Bergfüchsen aufgesucht wurde. Erstaunlicherweise liegt diese Zeit nicht mehr als 25 Jahre zurück. Auf Fotos von den 1990ern sind ein paar verstreute Häuser zu sehen. Die österreichische Gedenkkapelle trägt ihren Namen übrigens zu Recht, könnte sie doch ihrem Aussehen nach auch in einem österreichischen Alpendorf stehen. Nur das dahinter stehende Baugerüst stört den idyllischen Eindruck.
Im starken Kontrast zu den touristischen Orten El Calafate und El Chaiten steht die Umgebung. Das Radreisen auf den Straßen zwischen den Orten ist geprägt vom meist sturmhaften Wind, der trockenen Pampalandschaft, den zwei großen Seen Lago Argentino und Lago Viedma, dem schönen Flusslauf des Rio Leona und den großen Distanzen. Es gibt kaum Infrastruktur. Die einzige Möglichkeit für Radfahrerinnen windgeschützt zu nächtigen sind - neben Abflussrohren - die Farmen. Wie bereits weiter südlich erlebt, machten wir ausschließlich gute Erfahrungen, wenn wir anklopften, um eine Nacht verbringen zu dürfen. In der Estancia Rio Bote bekamen wir vom Farmaufpasser nicht nur ein Bett in einem schlichten Raum zur Verfügung gestellt, sondern der kranke Matthias wurde von ihm mit Tee und Medikamenten versorgt. Ähnlich besorgt war circa zwei Wochen später der Aufpasser der Estancia Santa Margarita als Katharina mit starken Bauchschmerzen niederlag. Auf Tee und hausgemachtes Brot folgte das Angebot, einen Arzt zu holen. Dies war jedoch nicht notwendig, da die Bauchverstimmung eine Eintagsfliege war. Auf der Estancia Punta del Lago durften wir im Häuschen der Arbeiter nächtigen. Hier wurde schon ein argentinischer Film über das Farmleben gedreht. Ebenso hatte die Straßenmeisterei nichts einzuwenden, als wir eine Nacht in ihrem Schuppen unser Zelt aufstellten.
Das wichtigste Dauerthema unter den Patagonien-Reisenden ist und bleibt der Wind. Radfahrer sind nicht die einzigen, die damit kämpfen, sondern ebenso Motorrad- und Autofahrer. Starke Windböen können selbst Autos versetzen und instabiles Fahren verursachen. So trafen wir in El Calafate einen brasilianischen Radfahrer, der von einer Autofahrerin angefahren worden war, die ihr Überholmanöver aufgrund des starken Windes nicht wie geplant durchführen konnte. Um das Reisen zu erleichtern, gibt es Apps wie Windy.com, die Windrichtung und -stärke prognostizieren. Es ist als Radfahrer durchaus ratsam diese zu konsultieren und gegebenenfalls einen Pausentag mehr oder weniger einzulegen, wenn man dafür den starken Seiten- oder Gegenwind vermeiden kann.